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Reisebericht Dezember 2011 - mit Update Ostern 2012
Auf dem Weg nach Nordwesten
I
Weil ich nicht weiß, ob
ich mit meinem Bericht zu einem Ende komme, - soviel gibt es nämlich zu erzählen,
- will ich es gleich sagen: es wurden dieses Mal 651 Kilometer, - und ich
bestehe auf dem einen Kilometer über die runde Zahl hinaus, denn jeder einzelne
Kilometer hat Mühe gemacht, hat Schweiß gekostet, bedeutete ein Erlebnis oder
verlangte, die Langeweile, die Ödnis und die Einsamkeit zu ertragen.
Wo beginne ich? Ich
beginne, ohne künstlerischen Anspruch, einfach mit dem Anfang; ich greife nicht
voraus, um später Früheres nachzuholen; ich
beginne nicht damit, wie wir es genossen, nach so vielen Nächten im Zelt wieder
in den breiten, glatten, reinen Betten des Hotels Naratuul zu liegen.
Nein, Sie sollen
einfach erfahren: am 20. Juni 2011 sind wir, meine Frau Hanne und ich, mit Air
China in Uulanbaatar angekommen. Unsere Bekannten empfingen uns, kauften mit uns ein: Lebensmittel, 20 kg
Propan, eine Schafwolldecke. Dann ab in Richtung Arvaikheer. Jeder weiß, was in
der Mongolei 450 Kilometer oder acht Stunden mit dem Auto bedeuten. Vergessen
wir's! Tomorbaatar hatte uns abgeholt, bei
seiner Familie verbrachten wir den Abend und die Nacht, bevor wir zu unserer
Wanderung aufbrechen wollten. Tomor kennen wir schon einige Jahre. Im Jahr 2007
hatte er zwei Monate bei uns zu Hause verbracht. Ich hatte damals unbedingt die
Hilfe eines mongolischen Pferdekenners gebraucht, denn mit zwei Pferden, die
ich im Jahr zuvor eingeführt hatte, war ich überhaupt nicht zurechtgekommen. Ich
will nicht im Einzelnen darstellen, wie er die beiden mongolischen Stuten
zugeritten hat, er konnte auf alle Fälle auf ihnen durch unsere kleine Stadt
reiten, sogar am Fasnachtsdienstag, als die Straßen voller lustiger, zu allen
möglichen Narreteien aufgelegter Menschen waren. Auf dem anderen Pferd, einer mißtrauischen
Stute, die alle Unarten an sich gehabt
hatte, die biß und ausschlug, war Tomor auch ganz gelassen die Straße
entlanggeritten, ohne dass sie sich von dröhnenden Lastwagen oder Autos hatte
beunruhigen lassen. Er konnte auf ihr
sogar in unsere Garage reiten und forderte schließlich, ich solle ihm eine
Flasche Bier hinaufreichen, zündete sich auch noch eine Zigarette an: so wollte
er photographiert werden.
So ein Kerl war Tomor. Ich
traute ihm zu, dass er uns einen Furgon mit einem erfahrenen Fahrer besorgte. Unser
Unternehmen sollte so ablaufen wie in den Jahren 2008 und 2009: wir beide
wollten vier Wochen zu Fuß durch den Khangai wandern oder, wenn Sie so wollen: trekken.
Trekken ist modern, so geht man heute. In den vergangenen zehntausend oder
hunderttausend Jahren ist man gewandert. Nun gut, wir wollten wandern. Der Fahrer
sollte zwanzig Kilometer vorausfahren bis zu dem Punkt, den ihm das GPS, ein
einfaches Garmin eTrex H, zeigte. In der Zeit, in der er auf uns wartete, sollte
er ein Mittagessen kochen, so einfach und so gut, wie er es eben zustande
brachte; wir hatten keine besonderen Ansprüche. Man sollte das Mittagessen, nun
ja, halt essen können. Nach einer längeren Rast wollten wir noch einmal zehn
Kilometer gehen, wieder bis dem Punkt, dessen Koordinaten Hanne ausgerechnen
würde, und das Ausrechnen war, wie wir noch zu Hause feststellten, nicht so
einfach. Bei den früheren Wanderungen
hatte sie die Punkte auf einer TPC-Karte bestimmt. Deren Maßstab von 1 : 500 000
erlaubte natürlich nur einen ganz groben Eindruck von der Landschaft. Nun hatte sie aber im Internet mongolische
Karten mit einem Maßstab von 1 : 100 000
entdeckt, die unglaublich genau war und derart viele Einzelheiten enthielt, dass
man sich den Weg fast bildhaft vorstellen konnte. Diese Karten aber
herunterzuladen und ausdrucken zu lassen, erwies sich als schwierig und
umständlich. Wenn man sie auf das Format A 3 kopieren wollte, mußte man einen
Maßstab von 1 : 133 000 in Kauf nehmen und
auch umständliches Berechnen der Koordinaten.
Nun aber zurück zu dem
Furgon, den Tomor besorgen sollte. Weil aber Tomor zufällig jemanden kannte, der
immer auf der Suche nach Aufträgen war, die er mit seinem Fahrzeug erledigen
konnte, wurde es eben kein Furgon, sondern nur ein Neunundsechziger, also kein
geländegängiger Kleinbus russischer Herkunft, sondern ein Jeep-ähnlicher
Geländewagen. In dem einen hätten wir für unser Gepäck mehr Raum gehabt, hätten
auch die Luftmatratzen aufgeblasen lassen können, hätten schreiben und nach dem
Mittagessen windgeschützt dösen können. Aber Tomors Bekannter hatte eben nur
den Neunundsechziger, brauchte Arbeit und war sicher bereit, Tomor einen Teil
seines Lohns abzutreten. Na schön, so etwas muß man eben in Kauf nehmen, vor
allem, wenn man keine andere Wahl hat. Aber hin und wieder ärgerte es mich doch,
weil es sehr umständlich war, das Gepäck über die Rückenlehnen hinweg
herauszuziehen, so daß man lieber darauf verzichtete, wenn man vergessen hatte,
ein Hemd, einen Pullover, ein Handtuch aus dem Koffer zu nehmen. Je mehr ich
darüber schreibe, umso mehr lebt dieser Ärger wieder auf, deswegen: Schluß
damit.
Tomors Familie, dazu
gehörten noch seine junge Frau und die beiden Kinder. Das jüngste war erst
wenige Monate alt und seinetwegen hatte die junge Frau ihre Ausbildung
abgebrochen. Er hatte uns einmal gesagt,
sie studiere auf der Hochschule in Tsetserleg und zwar irgendetwas mit
Wirtschaft. Aber jetzt kümmerte sie sich nur noch um ihren Haushalt, um Tomor
und die Kinder. Wir sahen die Familie natürlich nur von außen, wir verstanden
nicht die unmerklichen Gesten, die flüchtigen Worte, wir können nur mit
Rückhaltung feststellen, dass die junge Frau in der Familienarbeit aufging; wir
wissen nicht, ob sie Vorstellungen hatte, die über die Familie hinausgingen, ob
sie vielleicht vorhatte, die Ausbildung fortzusetzen, sobald die Kinder in die
Schule gingen. Aber Tomor selbst schien ohne Plan, ohne eine bestimmte
Vorstellung zu leben. Ich hatte ihm in den vergangenen Jahren einige Gäste
vermittelt. Aber die Einnahmen schienen ihm durch die Finger geronnen zu sein; Pferde
hatte er auch keine mehr, mit Ausnahme eines einzigen seien sie im Winter
verhungert oder erfroren. Und jetzt hatte er seine Jurte neben das kleine Haus
gestellt, das der Familie seiner Schwägerin gehörte, und suchte in der Stadt
nach Arbeit. Am liebsten hätte er uns begleitet, um etwas zu verdienen und uns
zu helfen, aber beim Wandern braucht man keine Hilfe. Das überzeugte ihn - nach
einer Weile. Ich verstand ihn, natürlich, aber ich konnte (und wollte) ihm
nicht helfen, zumal ich mir vorstellen konnte, dass er sich hinterher doch
deutlich unzufrieden zeigen würde, würden wir ihn um des Friedens willen
mitnehmen. Um eine Antwort auf seine Frage, ob wir ihm Geld leihen könnten, drückte
ich mich auch herum. Er mußte lernen, mit Geld vernünftiger umzugehen, wie ich
seit seinem Besuch bei uns wußte.
Verlassen wir nun Tomor,
sowohl hier in meinem Bericht als auch in Wirklichkeit und begeben uns endlich
auf die lange Wanderung nach Uliastai. Das war unser Ziel, wenn wir die 600 bis
700 Kilometer durchhielten. In Uliastai
wollten wir zur Zeit des Naadam ankommen, um endlich auch beim mongolischen
Nationalfest zuzuschauen. Wir waren schon so oft in der Mongolei gewesen, ohne
dass wir jemals beim Naadam zugeschaut hatten. In Uliastai waren die letzten
chinesischen Truppen stationiert gewesen, als die Mongolen um ihre
Unabhängigkeit kämpften. Das war lange her, über siebzig Jahre, aber vielleicht
sah man noch Reste der chinesischen Befestigungen.
Zunächst aber
durchquerten wir eines der Viertel, die um jede mongolische Stadt herum in die Landschaft hinauswuchern
und sich die Hänge hinauf ziehen. Entlang der autobahnbreiten Schneisen liegt
ein mannshoch mit Brettern umzäuntes Grundstück neben dem anderen. Die meisten
Familien leben noch in einer Jurte, einige haben es schon zu einem kleinen, aus
blaß-rosa Backsteinen erbauten Haus gebracht. Das Mauerwerk beweist oft
Geschick und einen Sinn für Genauigkeit, aber Fenster und Türen sind doch sehr
grob und ungeschickt gearbeitet. Vor jeder Jurte oder jedem Haus steht die
Parabol-Antenne, über das ganze Grundstück verstreut liegen Autoteile wie
Reifen, Batterien oder anderer Schrott und Holz. Sehr oft steht ein
chinesisches Motorrad neben der Jurte, manchmal auch ein Toyota oder ein
russischer Geländewagen wie der Neunundsechziger, wie er uns begleiten wird. In
einer Ecke des Grundstücks, wo auch sonst, ist das, was man früher bei uns als "Abtritt"
bezeichnete. Das verniedlichend als"Häuschen" zu bezeichnen, verbietet
sich eigentlich. Es ist eine Grube, die von verläßlichen, auf Lücke verlegten
Betonplatten abgedeckt wird, - und
natürlich umgeben von Bretterwänden mit
der in den Angeln quietschenden Tür, - wie wir von dem einen Mal her wissen, dass
wir auf unsereren Wanderungen auf diese Einrichtung angewiesen waren. Sonst
haben wir auf unserem Weg durch die
wenigen Dörfer, oder auf Mongolisch "Sum-Zentren", am Geruch gemerkt,
wo sich das Ding jeweils befand. Ich will keineswegs darüber lästern, dass man
sich in der Mongolei über diese Grube hocken muss, hocken, nicht setzen, - denn
schließlich hat die Mongolei Wichtigeres zu tun, als die Jurten-Vorstädte mit
einer teuren Kanalisation auszustatten, die es bei uns in den Kleinstädten und
Dörfern auch erst seit wenigen Jahrzehnten gibt.
Zwar zog sich der Weg
durch das Jurten-Viertel noch sehr lange hin, aber dann war es doch so weit, dass
wir um die Ecke des letzten Bretterzauns bogen und das freie Land vor uns
hatten.
II
Jetzt waren wir frei. Wir
waren zuversichtlich und skeptisch zugleich.
Vollkommen sicher waren
wir uns nicht, dass wir diesen langen Weg wieder so gut und ohne Umstände
schaffen würden wie in den Jahren 2009 und 2008. Bei der ersten Wanderung
hatten wir unseren Übersetzer Chuluun, dem
auch der Furgon gehört hatte, mit freundlicher Bestimmtheit erklären müssen, dass
wir wirklich zu Fuß in Richtung Choibolsan gehen und nicht etwa wie der Dutzend-Tourist in
einer "turist bas" bleiben wollten; nachdem er uns als
entschlossen kennengelernt hatte, erwies er sich als kundiger und erfahrener
Begleiter. Im Jahr darauf begleitete uns einer jener jungen Mongolen,
die - man muss es
leider sagen - in Deutschland, wo sie studieren sollten, gescheitert sind. Sie
sind der Möglichkeit erlegen, in der Industrie zu arbeiten und gut zu verdienen,
bis sie nach einer letzten Verlängerung des Visums nach Hause geschickt wurden,
ohne einen Abschluß, ohne eine Berufsausbildung. Sie hielten sich für
erfolgreich, weil sie mit ihren Ersparnissen eine oder zwei Eigentumswohnungen
kaufen konnten, natürlich in der Mongolei, aber sie brachten aus Deutschland nicht die Voraussetzungen für einen Beruf mit. Nun begleiten sie in den
zwei oder drei Monaten des Sommers Touristengruppen durch die Mongolei und
für den Rest des Jahres müssen sie sich
nach einer schlecht bezahlten Arbeit in der normalen Wirtschaft umschauen. Gambaa,
so hieß der junge Mann, der uns im Jahr 2009 durch den Altai begleitete, erfüllte
unsere Erwartungen, er übersetzte sehr gut, also nicht so, dass er eine lange
Rede in zwei Sätzen zusammenfasste. Daß es sich mit seinem Stolz nicht vertrug,
in der langen Zeit, die er auf uns wartete, unser Zelt aufzustellen, ärgerte
uns zwar, aber wir mußten uns damit abfinden. Gambaa glaubte, er dürfe sich nicht zum Diener machen lassen und
konnte es sich nicht vorstellen, dass wir es
als angenehm empfunden hätten, wenn wir, die wir am Abend nach dreißig
Kilometern müde zum Tagestreffpunkt kamen, nicht erst noch das Zelt hätten
aufstellen müssen.
Munkhoo, der uns dieses
Jahr als Übersetzer begleitete, hatte auch in Deutschland studiert, was man
eben studieren nennt. Anscheinend war er nicht nur schlecht, sondern überhaupt
nicht beraten worden und hatte Deutsche Literatur als Hauptfach gewählt. Das
mußte schiefgehen. Trotzdem gelang es ihm, zehn Jahre in Deutschland zu bleiben,
bis er schließlich zugeben mußte, daß er nicht mehr vor hatte, einen Abschluß
zu erwerben. Er hatte im übrigen genug verdient, um seinen Eltern eine
Eigentumswohnung zu kaufen und für sich auch eine. Und weil ihm von den
Agenturen gerade keine Aufträge angeboten wurden, war er frei, um uns zu
begleiten. In zehn Jahren kann man natürlich eine Menge Deutsch lernen, auch
wenn man bei Bosch mit Chinesen, Arabern
und Afghanen zusammenarbeitet, für die kleineren Grammatikfehler waren
wir beide zuständig.
Nachdem wir die Hügel, die
die Stadt Arvaikheer im Westen umgeben, überwunden hatten, verlief unser Weg
eine leicht wellige Ebene entlang. Es war leicht zu gehen, aber wir merkten, im
Khangai hatten wir es mit anderen Bedingungen zu tun.
Auf dem Weg nach Osten
waren wir zwar an den beiden ersten Morgen bei strengem Frost aufgewacht, es
schneite sogar leicht, aber danach war es beständig und trocken, bis wir am letzten Tag ein - ohne
Übertreibung - gewaltiges und gefährliches Gewitter durchqueren mußten. Im Jahr
darauf hatte es im Altai nur an einem Tag mehrmals geregnet, sonst war es immer trocken und warm geblieben.
Aber jetzt waren wir im Khangai. Unser Weg
führte uns in Richtung auf eine bedrohliche, dunkle Wolkenmasse zu. Wir
konnten nur hoffen, den Neunundsechziger zu erreichen, bevor die Gewalten aus
dieser Masse hervorbrechen würde. Eine vergebliche Hoffnung: mit unvermittelt
einsetzendem kaltem Wind begann es auch zu regen, immerhin nur wenige Minuten. Bald
war unsere Kleidung auch wieder trocken.
Munkhoo hatte von uns
ein GPS bekommen. Ein GPS ist eigentlich
ganz einfach zu handhaben: man bewegt sich in Richtung des Pfeils und bleibt
stehen, wenn es meldet: Ziel erreicht. Natürlich kann der Zielpunkt in einem
Bach liegen oder in einer Felswand, so genau kann man den Zielpunkt auf der
Karte nicht bestimmen. Dann bleibt man eben zehn Meter oder hundert Meter im
Umkreis um den eigentlichen Zielpunkt.Aber Munkhoo dachte zuviel. Vielleicht
dachte er: eigentlich sind die beiden noch nicht lange genug gegangen, wir
fahren noch etwas weiter, dann müssen sie am Nachmittag nicht so weit gehen. Vielleicht
dachte er auch: die beiden haben drei Wege zur Auswahl. Ich vermute, sie kommen
auf diesem Weg, deswegen bleiben wir, der Fahrer und ich, 'mal hier stehen und
warten. Wie könnte Munkhoo noch gedacht haben? Vielleicht so: ......oh, jetzt
habe ich zu spät auf das GPS geschaut und wir sind zu weit nach rechts gefahren.
Macht nichts, hier bleiben wir. Ich koche und du kannst die beiden suchen und
herbringen.
Kurz und gut, als wir
zum zweiten Mal nass geworden waren, wünschten wir, der Neunundsechziger stünde
dort, wo wir ihn erwartet hätten. Bis wir ihn nach der zweiten oder dritten
Bodenwelle einen Kilometer entfernt von uns sahen, waren wir zwar wieder
trocken, aber froren wie die Schneider. Die heiße Suppe tat gut, aber wärmte
nicht genügend und dazu kam, dass von den Wolken, die am westlichen
Horizont aufquollen, vom Wind verwehte
Regenschleier hingen. Es war besser abzuwarten, vielleicht in der Jurte, die
wir einer Entfernung von einer Viertelstunde sahen.
Ich hätte der Frau gar
nicht meine blau-gefrorenen Hände zu zeigen brauchen, sie hat - natürlich - gleich
angeheizt, gleich Wasser für einen Tee auf den Ofen gestellt und gleich damit
begonnen, einen Teig anzurühren, für Nudeln. Der Mann kam auch herein, auch er,
wie die Frau - wie man so sagt - gut beieinander. Ich war ganz dicht an den Ofen gerückt, und der
Mann hatte mit nacktem Oberkörper gearbeitet.
Die beiden waren die ersten, denen ich anbot, sie abzulichten und ihnen
von Zuhause aus ein Bild zu schicken. Ich sollte, meinte der Mann, auch noch aufnehmen, wie Schafe eingefangen
und angebunden wurden. Ich tat den Leuten den Gefallen, auch wenn wir
buchstäblich seit Jahrzehnten wußten, wie man Schafe oder Ziegen zum Melken
anbindet, nämlich eines von links, eines von rechts nebeneinander, so daß zwei
Frauen gleichzeitig melken können. Dann war auch die Suppe fertig und
schließlich war es Zeit aufzubrechen, auch wenn die Wolken noch genauso drohend
über der Ebene hingen. Den nächsten Punkt hatten wir in die Nähe eines Dorfes
gelegt, aber wir waren noch kaum eine halbe Stunde gegangen, da peitschte uns
der Sturm mit derartiger Gewalt Hagelschauer entgegen, dass es schmerzte. Der
Hagel ging schnell in Regen über. Wir waren klitschnass, als uns der
Neunundsechziger entgegenkam und wir uns ins Auto flüchteten. Was tun? Vielleicht gab es in dem Dorf einen Guanz, also
einen Imbiß oder was man als Wirtschaft
bezeichnen konnte. Dort könnten wir unsere Kleidung trocknen lassen und
abwarten, um später weiterzugehen. Aber
einen Guanz gab es nicht. Bold, der Fahrer, klopfte gegen die Tür eines
Gebäudes, an dem mit "Karaoke" geworben wurde. Niemand öffnete. Ich
schlug vor, weiterzufahren und bei der erstbesten Jurte zu fragen, ob wir bei der Familie
übernachten könnten.
III
Als wir bei der
erstbesten Jurte ankamen, tröpfelte es nur noch. Aber dem Wetter war nicht zu
trauen: wir blieben und wurden
eingeladen. Wir könnten auch in der Jurte übernachten, wenn uns die kleinen
Kinder nicht störten. Das Großelternpaar
wohnte mit der Familie einer Tochter zusammen, eine weitere Tochter war mit
ihren Kindern zu Besuch gekommen. Wir fühlten uns wohl, es hatte alles seine
Richtigkeit, jeder hatte seinen Platz, jeder hatte seine Arbeit, außer dem Großvater
natürlich. Ein älterer Mann hat das Recht, seinen Tag damit zu verbringen, dass
er sich mit anderen Männern unterhielt, die immer wieder einmal vorbeikamen, hin
und wieder eine Zigarette rauchte, Tee und dann und wann ein Gläschen Schnaps
trank. Hanne und ich holten die Bilder heraus, die wir von zu Hause mitgebracht
hatten, um zu zeigen, wir seien auch eine große Familie aus vier Kindern und deren Kindern. Auf diese Weise verstanden die Leute, die wir
unterwegs trafen, dass uns mit ihnen gemeinsame Erfahrungen verbanden. Wir
zeigten ihnen unser Haus, das sie natürlich bewunderten, und unsere Pferde, die
mongolischen vor allem, die ich bei zwei waghalsigen und
nervenaufreibenden Unternehmungen aus
der Mongolei geholt hatte, genauer gesagt, aus dem Aimag Uvs und aus dem Gebiet
um Baga nuur. Ich denke, man hat mir
nicht nur aus Höflichkeit bestätigt, der
Hengst sei ein Prachtkerl.
Ein Bild zeigte meine
Eltern mit ihren Kindern, Enkeln und Urenkel. Mein Vater sei auf dem Bild 89
Jahre, meine Mutter 85 Jahre. Ob in unserem Land alle Leute so alt würden, fragte
uns der Familienvater. Es sei nicht ungewöhnlich, meinten wir, dass die Leute
so alt würden, aber oft müsse man sie
pflegen und sich um sie kümmern. Man sah, das konnten sich unsere Gastgeber
nicht recht vorstellen. Er werde wohl siebzig Jahre alt werden, sagte der alte
Mann, nun ja, alt, er war jünger als ich, sogar deutlich, nämlich
dreiundsechzig. Ich sähe so jung aus, was
ich denn täte, wollte er wissen. Ich sagte, das sei ganz einfach: nicht rauchen
und nicht saufen. Natürlich übersetzte Munkhoo nicht in die mongolische
Entsprechung von "saufen", sondern sagte "trinken", - soviel
verstand ich. Ich glaube, die Frau hütete sich davor zu sagen: Siehst du wohl, ich
habe es dir immer gesagt. Sie sagte vielmehr garnichts, aber sie hatte so einen zustimmenden Blick, - meine ich. Weder
von diesem Blick, noch von dem, was ich gesagt hatte, ließ sich der Mann davon abhalten, sich eine Zigarette
anzuzünden und mit einem Bekannten, der mittlerweile gekommen war, ein oder
zwei Gläschen Schnaps hinter die Binde zu kippen. Natürlich bot er mir, Munkhoo
und dem Fahrer auch ein Glas an. Ich machte den Fehler abzulehnen, berichtigte
den Fehler nach einer Geste der Frau gleich und setzte das Gläschen wenigstens
an die Lippen und leckte mir dann die Tropfen aus dem Bart.
Es hatte doch nicht
mehr geregnet. Aber weiterzugehen hatte auch keinen Sinn mehr. Wir stellten das
Zelt nur wenige Schritte von der Jurte
entfernt auf und gingen bald "zu Bett". Wir hatten einigen Schlaf
nachzuholen. Wieder einmal die erste Nacht in der Steppe. Im Khangai
war es denn doch kühler als in den Tälern des Altai und erst recht kühler als in den Ebenen
südlich des Kherlin. Ich brauchte unbedingt noch eine wärmere Decke.
Ein neuer Tag, hoffentlich
ein Tag, an dem wir wirklich und endlich
würden gehen können, wie wir es uns vorgestellt hatten. Über das übliche
Zeremoniell beim Abschied will ich gar nicht so viel schreiben; es wird sich
ohnehin noch oft wiederholen: Tee mit den trockenen runden Keksen, das Gruppenbild, Bilder von
Kindern und dann fort. Es tat gut, wieder allein zu sein und gehen zu können. Das
Ziel für den Mittag war Uyanga, das Dorf, in dem der Fahrer mit seiner Familie
lebte.
IV
Manchen Fehler muss man
zweimal, dreimal begehen, damit er im Gedächtnis abgespeichert wird, zum
Beispiel den Fehler zu glauben, wenn man geradeaus gehe, komme man schneller
zum Ziel, als wenn man dem Weg folgt. Die Stromleitung sollte doch eigentlich
geradewegs und ohne Umwege nach Uyanga führen. Es war mein Vorschlag, der
Stromleitung zu folgen, statt auf dem Weg zu bleiben, der , soweit man sah, sich
zunächst von der Leitung entfernte. Zunächst
zog sich die Leitung über eine schiefe Ebene hin und wir hätten recht
angenehm gehen können, wenn es uns nicht viel Kraft gekostet hätte, gegen den
heftigen Wind anzukämpfen. Dann wurde
aus der Ebene auch noch eine Abfolge von leichten Mulden und Rücken, dann von
tieferen Mulden und höheren Rücken und schließlich mussten wir hohe Hänge hinuntersteigen,
tief ausgewaschene, immerhin trockene Rinnen durchqueren und ebenso steile und
hohe Hänge wieder hinaufsteigen. Das
machte müde. Wir wanderten dann doch auf den Weg zu. Wege sind eine vernünftige
Einrichtung, das muß man erst wieder begreifen, auch wenn es der Inbegriff von
Freiheit wäre, einfach der Nase nach zu gehen. Das ist natürlich trotzdem
möglich, aber wir mußten denn doch mit unseren Kräften haushalten, schließlich
befanden wir uns erst am Anfang unserer Wanderung. Von jener Jurte bis nach
Uyanga sollten es ungefähr zwanzig Kilometer sein. Durch die Abkürzung hatten
wir etwa eine Stunde verloren und erreichten die Höhe über Uyanga nach fünf
Stunden. Wir sahen auf das Dorf hinunter, ein Dorf wie die meisten anderen
mongolischen Dörfer auch. Aus der sozialistischen Zeit stammten die längeren
zwei- oder dreistöckigen, weiß gestrichenen öffentlichen Gebäude mit den roten
Dächern, die Schule, ein Wohnblock, die Verwaltung und das Heizwerk. Aber uns
fielen die vielen roten oder grünen Dächer kleiner Wohnhäuser auf. Das kannten
wir von früheren Aufenthalten her nicht. Schon der Blick von dem Hügel über das
Dorf hin vermittelte uns den Eindruck, es gehe den Leuten besser als noch vor
einigen Jahren. Noch zehn , fünfzehn Jahre nach der mongolischen Wende konnte
man mancherorts meinen, es gehe mit dem Lebensstandard überhaupt nicht vorwärts.

Der Pfeil des GPS
zeigte auf einen Punkt in 950 Meter Entfernung, ungefähr in der Mitte des
Dorfes. Aber als wir hinunterzusteigen begannen, kam ein Junge von zwölf oder
vierzehn Jahren auf einem Mountainbike auf uns zu gestrampelt und streckte uns
einen Zettel hin:
Munkhoo bat uns, den
Jungen zu "verfolgen", er bringe uns zur Familie des Fahrers.
Alles war zu unserem
Empfang bereit. Bolds Frau hatte sich schön gemacht, eine Nachbarin erschien
durchaus elegant, das Tischchen war bedeckt mit den bekannten mongolischen
Häppchen und mit Süßigkeiten. Während man Tee trank, zeigte Munkhoo unsere
Bilder, er wußte schon, was zu den einzelnen Bildern zu sagen war. Als er den
Erwachsenen unser Haus zeigte, schien es mir notwendig zu erklären, dass ich es
einerseits selbst gebaut hatte, dass es aber andererseits zwanzig Jahre
gedauert hatte, bis alle Kredite
abbezahlt waren. Man sollte nicht meinen, man könne sich ein Haus leisten, so
wie man sich ein Auto anschafft. Als die Rede von meinen mongolischen Pferden
war, erwähnte Munkhoo, Bolds Freund sei ein berühmter Pferdetrainer und er
komme demnächst noch vorbei. Ich muß zugeben, Pferde hatten eigentlich für mich
nicht mehr die Bedeutung wie früher, als ich es mir in den Kopf gesetzt hatte, mongolische
Pferde nach Europa zu bringen. Jetzt bedeuteten Pferde eigentlich nur noch
Arbeit, und was für Pferde der eine oder
andere aduchin (mongol. Pferdehalter) besitzt, nun ja, das kümmerte mich
eigentlich nur noch wenig. Das Projekt Pferde war abgeschlossen, es gehörte
einer früheren Epoche meines Lebens an, auch wenn das meine Pferde wiederum
nicht kümmert, die mir viel und oft harte Arbeit bereiten. Nun gut, der
berühmte Pferdetrainer würde später kommen, bis dahin unterhielten wir uns, genauer
gesagt: wir fragten, sie antworteten. Wie es denn mit Arbeitsplätzen stünde. Denn
die beiden Jungen und der kleine Jurten-Haushalt konnte doch Bolds Frau nicht
auslasten. - Sie würde gern arbeiten, aber im Dorf gebe es kaum Gelegenheit
dazu, vor allem nicht für Frauen. Wo denn Bold arbeite? Bold sei eigentlich
arbeitslos. Er warte darauf, dass eine Familie mit ihrer Jurte und ihren Herden
umziehe oder etwas von da nach dort zu bringen habe. Dann brauche man ihn mit
seinem Neunundsechziger. Wo er den her habe, ob er das Auto bekommen habe, als
die Genossenschaften aufgelöst worden seien. - Nein, damals hätten sich die
Leute in der Verwaltung der Genossenschaft bedient, die
hätten sich Autos und Lastwagen unter den Nagel gerissen. Er, Bold, habe den
Neunundsechziger vor drei Jahren gerade von so jemandem gekauft, für tausend
Dollar. - Aha, soviel Geld habe er also gehabt, vielleicht habe er sein Vieh
verkauft? - Nein, er hat nach Gold gesucht wie viele Leute im Dorf. - Jetzt
konnte ich mir erklären, dass wir so viele neue, kleine Häuser gesehen hatten.
Es gab noch einiges
einzukaufen. Munkhoo und Bold brauchten Fleisch. Für Mongolen ist Fleisch die
Grundlage jeder Mahlzeit. Wir beide waren nicht gerade versessen auf Fleisch, aber
ohne Fleisch in der Suppe war der Weg nicht zu bewältigen.
Ich weiß nicht, ob Sie
die Empfindungen kennen, die sich in der Nacht einstellen, wenn man ungewaschen
im Schlafsack steckt. Wo Haut auf Haut liegt, also an den Beinen, verflüssigt
sich der Schweiß. Der Stoff fließt nicht über die Haut, man kann sich kaum
drehen und wenden, kurz und gut: unangenehm. Deswegen suchten und fanden wir auch für mich auf dem Markt eine Decke,eine
bezogene Kamelhaardecke, natürlich auch China, woher auch sonst. Schluß mit dem Gefühl eingesperrt zu sein. In
Uyanga hatte sich also mit der Zeit ein Markt entwickelt. Hier in diesem
unbekannten Dorf waren ein Dutzend
Container gestrandet, die einmal auf Schiffen aufgestapelt Güter von einem
Kontinent zum andern befördert hatten. Und jetzt standen die Tore offen, vor
denen alles angeboten wurde, was mongolische Familien brauchten oder zwar nicht
brauchten, aber ihnen doch das Gefühl gab,
sie könnten sich leisten, was der Weltmarkt bietet: Schokolade der Marke
"Alpenkönig", Seife mit dem Bild einer blonden "Fairy Queen".
V
Der Pferdetrainer kam
am frühen Nachmittag. Das Pferd, das er in den Hof führte, wolle er mir
schenken. Ich bin kein Pferdekenner. Ich
sehe, ob ein Pferd schön ist, aber viel mehr fällt mir nicht auf. Jeder sieht
natürlich, ob das Pferd gerade steht, ob die Hufe den richtigen Winkel zum
Boden und zum Fuß bilden; aber dazu braucht es kein Kennertum. Aber hier mußte
ich mir etwas einfallen lassen. Der Rücken sei gerade, er hänge nicht durch und
die Kruppe, ja, die sei auch richtig, und die Brust sei breit genug, damit die Lunge Raum habe. Er,
der Wallach habe einen vertrauensvollen und Vertrauen erweckenden Blick. Ich
zögerte nicht lange damit, Anstalten zum Aufsitzen zu machen. Der aduuchin, also
der Pferdehalter, hängte mir die Steigbügel tiefer und zog den Sattelgurt noch
einmal an, dann saß ich auf, - ohne dass der Wallach beunruhigt zeigte, ließ
ihn den paar Schritte zur hinteren Bretterwand gehen, spornte ihn mit dem
bekannten "Tschu" an und brachte ihn zum Traben. Das ging alles ohne
Umstände von statten, also noch einmal hin und her für ein paar Bilder und das
war's dann. Nun also kam die Zeremonie des Schenkens. Der Aduuchin zog einen
blauen Hadag aus seinem Deel, und legt ihn sich, wie man in den
Reiseerzählungen aus der Zeit um 1900 liest, über beide Hände. Dann legt er den
Hadag mir über die Hände und damit war das Eigentum an dem Pferd auf mich
übergegangen. Aber wenn Mongolen Sven
Hedin oder dem Grafen Schwerin ein Pferd oder ein Bärenfell schenkten, dann
überreichten sie ihnen natürlich einen Hadag aus echter Seide, keinen aus
Polyester, Preis umgerechnet 1,50 €. Jemandem ein Pferd zu schenken, ist also
heutzutage sehr günstig und macht nichtsdestoweniger Eindruck. Damit, dass mir
der aduuchin den Hadag überreicht hatte, war die feierliche Handlung noch nicht
beendet. Bolds Frau reichte mir ein Töpfchen mit Milch und einen Löffel: ich
sollte das Pferd auch mit Milch besprengen. Wahrscheinlich hätte ich um das
Pferd herumgehen und ihm von allen Seiten ein paar Tropfen auf das Fell
spritzen sollen, aber ich ließ es mit
drei Spritzern auf die Mähne genug sein; vielleicht erinnerte ich mich
in diesem Augenblick daran, wie der Pfarrer einst die Gemeinde mit Weihwasser
besprengt hatte.
Nun mußten wir uns
endlich auf den Weg machen, bevor es soweit war, noch ein Bild und noch eines
und noch eines von den Kindern, von denen eines ohne seine Mutter nicht stehen
bleiben wollte, - und fort.
Während all dieser
Nettigkeiten war das Notwendige unterblieben und es war vorherzusehen, dass es wieder lange
dauern werde, bis wir in die freie Natur gelangten. Ich denke, man versteht, worum
es mir ging. So unangenehm die Vorstellung war, es mußte sein, ich klemmt mir
die Rolle unter den Arm und fragt die Frau, die mit einem an die vierzehn Jahre
alten Mädchen vor ihrem Delguur, also vor ihrem Geschäft saß, wo das möglich
sei. Die beiden schienen selbst unschlüssig zu sein, ob man mir die Örtlichkeit
zumuten könne, aber zeigten mir unter verlegenem Gekicher ihr "Häuschen".

Nun aber vorwärts. Das
Dorf dünnte sich aus, links noch die Schule und ein kleiner Tempel, dann noch
die Tankstelle und schließlich lag das Dorf hinter uns. Allerdings lag ein paar
hundert Meter vor uns noch ein Heiligtum. Bold, der uns überholt hatte, empfahl
uns, dem Gott, der in dem Tempelchen hauste, unsere Wünsche anzuvertrauen und
zwar so leise, dass es niemand höre, Hanne in das linke göttliche Ohr, ich in
das rechte. Der Gott sah nicht sehr appetitlich aus, so, als bestehe er nur aus
verschmutztem Fett. Aber wir flüsterten
ihm unsere Wünsche in die Ohren, wir möchten durchhalten und nicht krank werden.
Das hätten wir natürlich genauso gut laut sagen können. Vielleicht aber wären
unsere Wünsche dann nicht so erfüllt worden, wie es tatsächlich geschehen ist. Das darf ich doch
schon vorwegnehmend sagen. Aber jetzt endlich weiter, wir hatten immer noch
zwei bis drei Stunden Weg vor uns, der uns zunächst zu einem Bach führen sollte.
Offenkundig verlief der Weg am anderen Ufer den Bach entlang und wir folgten
ihm, bis der Bach eine Felswand umspülte. Jenseits des Bachs waren Leute dabei,
Schafe zu scheren. Durch Rufe und Gesten fragten wir, wo denn der Weg
weitergehe. Wir sollten hinüberkommen. Wir hatten zwei Jahre zuvor am Bulgan
gol gespürt, wie unangenehm und schmerzhaft es sein kann, durch einen Bach barfuß zu waten, deswegen
hatten wir Badeschlappen mit in die Mongolei genommen, aber im Gepäck gelassen.
Dieser Bach war recht breit und wegen
der starken Strömung brauchte man einen sicheren Stand. Deswegen blieb uns
nichts weiter übrig, als in den Schuhen hinüberzugehen. Von den Leuten erfuhren
wir: nein, ein Neunundsechziger sei nicht durchgekommen, und: weiter den Hang
hinauf fänden wir einen Weg. Und nach einer Stunde hatten wir Bold, Munkhoo und
den Neunundsechziger eingeholt. Wir
lagerten auf einer von Vulkansteinen übersäten Hochebene oberhalb des Tals. Ich
stellte mir vor, wie diese gewaltigen schwarzen Brocken bei dem Ausbruch eines
zwanzig, dreißig Kilometer entfernten Vulkans heruntergeprasselt waren, vielleicht
gar vor wenigen zehntausend Jahren, als der Nyaman nuur entstanden war.
Man kann in der
Mongolei kaum unbemerkt bleiben, immer wieder, auch bei früheren Wanderungen, kommt
jemand vorbei, der sich gern einmal mit jemandem unterhält, der nicht längst
Bekanntes wiederkäut. Gewöhnlich sitzt man ab, hockt sich hin und raucht
zusammen eine Zigarette, während man Neuigkeiten austauscht und die Pferde ein
paar Grashalme zupfen. An diesem Abend
näherte sich uns ein Mann auf dem Motorrad. Er suchte zwar sein Vieh, aber
für die Länge einer Zigarette und für eine Schale Tee hatte er Zeit. In dieser
Gegend gebe es Wölfe und er wolle am
Morgen noch einmal vorbeischauen, jetzt müsse er nach seinem Vieh schauen.
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Auf der Höhe, auf der
wir uns befanden, wurde es nach Sonnenuntergang schnell recht kühl. Meistens
lagen wir um acht Uhr abends schon in unserem Zelt, kein Wunder, dass es einen
mitten in der Nacht noch einmal hinausdrängt. Und da lagen diese dunklen, - was
auch immer, kauernd und lauernd um das Zelt herum. Wölfe? Kann es sein, dass
sie um das Zelt herum warten, bis jemand nicht anders kann, als vors Zelt zu
kommen? Ich hätte, trotz der Kühle, den nächtlichen Himmel noch mehr betrachtet, aber ich zog es vor, den
Blück auf diese dunklen...was auch immer gerichtet, rückwärts ins Zelt zu
kriechen.
VI
Manchen Fehler muss man
zweimal, dreimal begehen, damit er im Gedächtnis abgespeichert wird, zum
Beispiel den Fehler zu glauben, wenn man geradeaus gehe, komme man schneller
zum Ziel, als wenn man dem Weg folgt. Die Stromleitung sollte doch eigentlich
geradewegs und ohne Umwege nach Uyanga führen. Es war mein Vorschlag, der
Stromleitung zu folgen, statt auf dem Weg zu bleiben, der , soweit man sah,
sich zunächst von der Leitung entfernte. Zunächst zog sich die Leitung über eine schiefe Ebene
hin und wir hätten recht angenehm gehen können, wenn es uns nicht viel Kraft
gekostet hätte, gegen den heftigen Wind anzukämpfen. Dann wurde aus der Ebene auch noch eine
Abfolge von leichten Mulden und Rücken, dann von tieferen Mulden und höheren
Rücken und schließlich mussten wir hohe Hänge hinuntersteigen, tief
ausgewaschene, immerhin trockene Rinnen durchqueren und ebenso steile und hohe
Hänge wieder hinaufsteigen. Das machte
müde. Wir wanderten dann doch auf den Weg zu. Wege sind eine vernünftige
Einrichtung, das muß man erst wieder begreifen, auch wenn es der Inbegriff von
Freiheit wäre, einfach der Nase nach zu gehen. Das ist natürlich trotzdem
möglich, aber wir mußten denn doch mit unseren Kräften haushalten, schließlich befanden
wir uns erst am Anfang unserer Wanderung. Von jener Jurte bis nach Uyanga
sollten es ungefähr zwanzig Kilometer sein. Durch die Abkürzung hatten wir etwa
eine Stunde verloren und erreichten die Höhe über Uyanga nach fünf Stunden. Wir
sahen auf das Dorf hinunter, ein Dorf wie die meisten anderen mongolischen
Dörfer auch. Aus der sozialistischen Zeit stammten die längeren zwei- oder
dreistöckigen, weiß gestrichenen öffentlichen Gebäude mit den roten Dächern,
die Schule, ein Wohnblock, die Verwaltung und das Heizwerk. Aber uns fielen die
vielen roten oder grünen Dächer kleiner Wohnhäuser auf. Das kannten wir von
früheren Aufenthalten her nicht. Schon der Blick von dem Hügel über das Dorf
hin vermittelte uns den Eindruck, es gehe den Leuten besser als noch vor
einigen Jahren. Noch zehn , fünfzehn Jahre nach der mongolischen Wende konnte
man mancherorts meinen, es gehe mit dem Lebensstandard überhaupt nicht vorwärts.
Der Pfeil des GPS
zeigte auf einen Punkt in 950 Meter Entfernung, ungefähr in der Mitte des
Dorfes. Aber als wir hinunterzusteigen begannen, kam ein Junge von zwölf oder
vierzehn Jahren auf einem Mountainbike auf uns zu gestrampelt und streckte uns
einen Zettel hin:
Munkhoo bat uns, den
Jungen zu "verfolgen", er bringe uns zur Familie des Fahrers.
Alles war zu unserem
Empfang bereit. Bolds Frau hatte sich schön gemacht, eine Nachbarin erschien
durchaus elegant, das Tischchen war bedeckt mit den bekannten mongolischen
Häppchen und mit Süßigkeiten. Während man Tee trank, zeigte Munkhoo unsere
Bilder, er wußte schon, was zu den einzelnen Bildern zu sagen war. Als er den
Erwachsenen unser Haus zeigte, schien es mir notwendig zu erklären, dass ich es
einerseits selbst gebaut hatte, dass es aber andererseits zwanzig Jahre
gedauert hatte, bis alle Kredite
abbezahlt waren. Man sollte nicht meinen, man könne sich ein Haus leisten, so
wie man sich ein Auto anschafft. Als die Rede von meinen mongolischen Pferden
war, erwähnte Munkhoo, Bolds Freund sei ein berühmter Pferdetrainer und er
komme demnächst noch vorbei. Ich muß zugeben, Pferde hatten eigentlich für mich
nicht mehr die Bedeutung wie früher, als ich es mir in den Kopf gesetzt hatte,
mongolische Pferde nach Europa zu bringen. Jetzt bedeuteten Pferde eigentlich
nur noch Arbeit, und was für Pferde der
eine oder andere aduchin (mongol. Pferdehalter) besitzt, nun ja, das kümmerte
mich eigentlich nur noch wenig. Das Projekt Pferde war abgeschlossen, es
gehörte einer früheren Epoche meines Lebens an, auch wenn das meine Pferde
wiederum nicht kümmert, die mir viel und oft harte Arbeit bereiten. Nun gut,
der berühmte Pferdetrainer würde später kommen, bis dahin unterhielten wir uns,
genauer gesagt: wir fragten, sie antworteten. Wie es denn mit Arbeitsplätzen
stünde. Denn die beiden Jungen und der kleine Jurten-Haushalt konnte doch Bolds
Frau nicht auslasten. - Sie würde gern arbeiten, aber im Dorf gebe es kaum
Gelegenheit dazu, vor allem nicht für Frauen. Wo denn Bold arbeite? Bold sei
eigentlich arbeitslos. Er warte darauf, dass eine Familie mit ihrer Jurte und
ihren Herden umziehe oder etwas von da nach dort zu bringen habe. Dann brauche
man ihn mit seinem Neunundsechziger. Wo er den her habe, ob er das Auto
bekommen habe, als die Genossenschaften aufgelöst worden seien. - Nein, damals
hätten sich die Leute in der Verwaltung der Ge-
nossenschaft bedient,
die hätten sich Autos und Lastwagen unter den Nagel gerissen. Er, Bold, habe
den Neunundsechziger vor drei Jahren gerade von so jemandem gekauft, für
tausend Dollar. - Aha, soviel Geld habe er also gehabt, vielleicht habe er sein
Vieh verkauft? - Nein, er hat nach Gold gesucht wie viele Leute im Dorf. -
Jetzt konnte ich mir erklären, dass wir so viele neue, kleine Häuser gesehen
hatten.
Es gab noch einiges
einzukaufen. Munkhoo und Bold brauchten Fleisch. Für Mongolen ist Fleisch die
Grundlage jeder Mahlzeit. Wir beide waren nicht gerade versessen auf Fleisch,
aber ohne Fleisch in der Suppe war der Weg nicht zu bewältigen.
Ich weiß nicht, ob Sie
die Empfindungen kennen, die sich in der Nacht einstellen, wenn man ungewaschen
im Schlafsack steckt. Wo Haut auf Haut liegt, also an den Beinen, verflüssigt
sich der Schweiß. Der Stoff fließt nicht über die Haut, man kann sich kaum
drehen und wenden, kurz und gut: unangenehm. Deswegen suchten und fanden wir auch für mich auf dem Markt eine Decke,eine
bezogene Kamelhaardecke, natürlich auch China, woher auch sonst. Schluß mit dem Gefühl eingesperrt zu sein. In
Uyanga hatte sich also mit der Zeit ein Markt entwickelt. Hier in diesem
unbekannten Dorf waren ein Dutzend
Container gestrandet, die einmal auf Schiffen aufgestapelt Güter von einem
Kontinent zum andern befördert hatten. Und jetzt standen die Tore offen, vor
denen alles angeboten wurde, was mongolische Familien brauchten oder zwar nicht
brauchten, aber ihnen doch das Gefühl gab,
sie könnten sich leisten, was der Weltmarkt bietet: Schokolade der Marke
"Alpenkönig", Seife mit dem Bild einer blonden "Fairy
Queen".
VII
Der Pferdetrainer kam
am frühen Nachmittag. Das Pferd, das er in den Hof führte, wolle er mir
schenken. Ich bin kein Pferdekenner. Ich
sehe, ob ein Pferd schön ist, aber viel mehr fällt mir nicht auf. Jeder sieht
natürlich, ob das Pferd gerade steht, ob die Hufe den richtigen Winkel zum
Boden und zum Fuß bilden; aber dazu braucht es kein Kennertum. Aber hier mußte
ich mir etwas einfallen lassen. Der Rücken sei gerade, er hänge nicht durch und
die Kruppe, ja, die sei auch richtig, und die Brust sei breit genug, damit die Lunge Raum habe.
Er, der Wallach habe einen vertrauensvollen und Vertrauen erweckenden Blick.
Ich zögerte nicht lange damit, Anstalten zum Aufsitzen zu machen. Der aduuchin,
also der Pferdehalter, hängte mir die Steigbügel tiefer und zog den Sattelgurt
noch einmal an, dann saß ich auf, - ohne dass der Wallach beunruhigt zeigte, ließ
ihn den paar Schritte zur hinteren Bretterwand gehen, spornte ihn mit dem
bekannten "Tschu" an und brachte ihn zum Traben. Das ging alles ohne
Umstände von statten, also noch einmal hin und her für ein paar Bilder und das
war's dann. Nun also kam die Zeremonie des Schenkens. Der Aduuchin zog einen
blauen Hadag aus seinem Deel, und legt ihn sich, wie man in den
Reiseerzählungen aus der Zeit um 1900 liest, über beide Hände. Dann legt er den
Hadag mir über die Hände und damit war das Eigentum an dem Pferd auf mich
übergegangen.
Aber wenn Mongolen Sven Hedin oder dem Grafen
Schwerin ein Pferd oder ein Bärenfell schenkten, dann überreichten sie ihnen
natürlich einen Hadag aus echter Seide, keinen aus Polyester, Preis umgerechnet
1,50 €. Jemandem ein Pferd zu schenken, ist also heutzutage sehr günstig und
macht nichtsdestoweniger Eindruck. Damit, dass mir der aduuchin den Hadag
überreicht hatte, war die feierliche Handlung noch nicht beendet. Bolds Frau
reichte mir ein Töpfchen mit Milch und einen Löffel: ich sollte das Pferd auch
mit Milch besprengen. Wahrscheinlich hätte ich um das Pferd herumgehen und ihm
von allen Seiten ein paar Tropfen auf das Fell spritzen sollen, aber ich ließ
es mit drei Spritzern auf die Mähne
genug sein; vielleicht erinnerte ich mich in diesem Augenblick daran, wie der
Pfarrer einst die Gemeinde mit Weihwasser besprengt hatte.
Nun mußten wir uns
endlich auf den Weg machen, bevor es soweit war, noch ein Bild und noch eines
und noch eines von den Kindern, von denen eines ohne seine Mutter nicht stehen
bleiben wollte, - und fort.
Während all dieser
Nettigkeiten war das Notwendige unterblieben und es war vorherzusehen, dass es wieder lange
dauern werde, bis wir in die freie Natur gelangten. Ich denke, man versteht,
worum es mir ging. So unangenehm die Vorstellung war, es mußte sein, ich klemmt
mir die Rolle unter den Arm und fragt die Frau, die mit einem an die vierzehn
Jahre alten Mädchen vor ihrem Delguur, also vor ihrem Geschäft saß, wo das
möglich sei. Die beiden schienen selbst unschlüssig zu sein, ob man mir die
Örtlichkeit zumuten könne, aber zeigten mir unter verlegenem Gekicher ihr
"Häuschen".
Nun aber vorwärts. Das
Dorf dünnte sich aus, links noch die Schule und ein kleiner Tempel, dann noch
die Tankstelle und schließlich lag das Dorf hinter uns. Allerdings lag ein paar
hundert Meter vor uns noch ein Heiligtum. Bold, der uns überholt hatte, empfahl
uns, dem Gott, der in dem Tempelchen hauste, unsere Wünsche anzuvertrauen und
zwar so leise, dass es niemand höre, Hanne in das linke göttliche Ohr, ich in
das rechte. Der Gott sah nicht sehr appetitlich aus, so, als bestehe er nur aus
verschmutztem Fett.

Aber wir flüsterten ihm unsere Wünsche in die
Ohren, wir möchten durchhalten und nicht krank werden. Das hätten wir natürlich
genauso gut laut sagen können. Vielleicht aber wären unsere Wünsche dann nicht
so erfüllt worden, wie es tatsächlich
geschehen ist. Das darf ich doch schon vorwegnehmend sagen. Aber jetzt endlich
weiter, wir hatten immer noch zwei bis drei Stunden Weg vor uns, der uns
zunächst zu einem Bach führen sollte. Offenkundig verlief der Weg am anderen
Ufer den Bach entlang und wir folgten ihm, bis der Bach eine Felswand umspülte.
Jenseits des Bachs waren Leute dabei, Schafe zu scheren. Durch Rufe und Gesten
fragten wir, wo denn der Weg weitergehe. Wir sollten hinüberkommen. Wir hatten
zwei Jahre zuvor am Bulgan gol gespürt, wie unangenehm und schmerzhaft es sein
kann, durch einen Bach barfuß zu waten,
deswegen hatten wir Badeschlappen mit in die Mongolei genommen, aber im Gepäck
gelassen. Dieser Bach war recht breit
und wegen der starken Strömung brauchte man einen sicheren Stand. Deswegen
blieb uns nichts weiter übrig, als in den Schuhen hinüberzugehen. Von den
Leuten erfuhren wir: nein, ein Neunundsechziger sei nicht durchgekommen, und:
weiter den Hang hinauf fänden wir einen Weg.
Und nach einer Stunde
hatten wir Bold, Munkhoo und den Neunundsechziger eingeholt. Wir lagerten auf einer von Vulkansteinen
übersäten Hochebene oberhalb des Tals. Ich stellte mir vor, wie diese
gewaltigen schwarzen Brocken bei dem Ausbruch eines zwanzig, dreißig Kilometer
entfernten Vulkans heruntergeprasselt waren, vielleicht gar vor wenigen
zehntausend Jahren, als der Nyaman nuur entstanden war.
Man kann in der
Mongolei kaum unbemerkt bleiben, immer wieder, auch bei früheren Wanderungen,
kommt jemand vorbei, der sich gern einmal mit jemandem unterhält, der nicht
längst Bekanntes wiederkäut. Gewöhnlich sitzt man ab, hockt sich hin und raucht
zusammen eine Zigarette, während man Neuigkeiten austauscht und die Pferde ein
paar Grashalme zupfen. An diesem Abend
näherte sich uns ein Mann auf dem Motorrad. Er suchte zwar sein Vieh,
aber für die Länge einer Zigarette und für eine Schale Tee hatte er Zeit. In
dieser Gegend gebe es Wölfe und er wolle
am Morgen noch einmal vorbeischauen, jetzt müsse er nach seinem Vieh schauen.
Auf der Höhe, auf der
wir uns befanden, wurde es nach Sonnenuntergang schnell recht kühl. Meistens
lagen wir um acht Uhr abends schon in unserem Zelt, kein Wunder, dass es einen
mitten in der Nacht noch einmal hinausdrängt. Und da lagen diese dunklen, .....
was auch immer, kauernd und lauernd um das Zelt herum. Wölfe? Kann es sein,
dass sie um das Zelt herum warten, bis jemand nicht anders kann, als vors Zelt
zu kommen? Ich hätte, trotz der Kühle, den nächtlichen Himmel noch mehr betrachtet, aber ich zog es vor,
den Blick auf diese dunklen...was auch immer gerichtet, rückwärts ins Zelt zu
kriechen.
VIII
Am Morgen sah ich es:
in der Nacht hatten keine Wölfe auf der Lauer gelegen; Steine lagen da, wo sie vor zehntausenden von
Jahren heruntergeprasselt waren, geformt von vulkanischer Wucht. Auf ihrer
Oberfläche waren Gasbläschen zersprungen, im Innern waren vielleicht noch
Gase aus den Tiefen der Erde
eingeschlossen.
Der Mann vom Abend
vorher kam tatsächlich vorbei und frühstückte mit uns, was es eben gab: Tee und
harte Kekse mit Marmelade. Worüber wir
uns unterhielten: Ich weiß es nicht mehr, ich versprach ihm auf alle Fälle ein
schönes großes Porträt. Ich hatte fest vor, es ihm zu schicken.
Wir wollten an diesem
Tag den Nyaman nuur, den See erreichen, zuerst sollten Munkho und der Fahrer
bis zum Bach vorausfahren, damit wir mit ihnen über den Bach übersetzen
konnten. Der Weg zog sich der Länge nach über die Hochfläche, auf der wir übernachtet
hatten und führte mitten durch eine Gruppe von vier oder fünf Jurten. Aber es
gelang uns - leider - , diese Jurten zu passieren, ohne dass jemand vor die Tür
kam und uns zu sich her winkte, andererseits war uns das recht, denn wir hatten
einen weiten Weg vor uns. Munkhoo und der Fahrer hatten tatsächlich am Bach gewartet.
Ich erwähne das Selbstverständliche, weil wir nicht sicher waren, ob ihnen in
der Zwischenzeit nicht doch eine andere
Idee gekommen war.
Das Tal, das wir
entlang gingen, wird im Norden abgeschlossen, dort vereinigen sich die
Bergketten zu einem Riegel, jenseits dessen der Kessel der Seen liegt, deren
größter, der Nyaman nuur, unser Tagesziel war. Aber bis dahin war es noch sehr
weit, das Tal zog sich sehr lange hin.
Immer wieder mußten wir die Schuhe ausziehen, um einen der vielen
kleineren Bäche zu überqueren, die von Osten und Westen her dem breiten
Bach dieses Tales zuströmten, - Schuhe
aus, Schuhe an, das kostete Zeit. Wegen des Baches war das Tal dicht besiedelt,
d.h. jede Stunde kamen wir an einer Gruppe von drei oder vier Jurten vorbei,
die allerdings nicht gerade im Talgrund, sondern eher am Abhang der Berge
standen. Das bedeutete für uns beide: wir hatten keine Gelegenheit, uns zu
einem Tee einladen zu lassen. Einigen Kindern begegneten wir, die auf dem Weg
waren, um vom Bach Wasser zu holen. Als
wir dem Weg folgten, der um den Ausläufer eines Berges bog, erhoben sich mitten aus der grünen
Talebene zwei Felsen wie Warzen oder Geschwüre auf glatter Haut.
Vor diesen Felsen graulten sich zwei Pferde gegenseitig die Mähne.
Je weiter wir gingen,
um so mehr verengste sich das Tal und der Weg führte nun dicht an den Jurten
vorbei und immer wieder über Bäche, die aus
den Seitentälern herunter strömten, tosten, plätscherten und sprudelten.
Den einen Bach konnten wir von Stein zu Stein springend überqueren, den andern
barfuß durchwaten. Mittlerweile hatten sich die wenigen Wolken zu einer
drohenden dunkelgrauen Wolkenbank geballt, und nicht nur das, hin und wieder durchnäßte
uns ein Regenguß. Eigentlich konnte es nicht mehr so weit sein, dann müßten wir
den Neunundsechziger sehen, deswegen folgten wir der schüchternen, unbeholfenen
Geste einer Frau, die uns in ihre Jurte einlud.
Sie war keine der selbstbewußten Nomadenfrauen; ihre Kleidung trug die
Zeichen von Armut, auch die Kleidung der Kinder, deren Jüngstes sie auf dem Arm
trug. Auch die Jurte war ärmlich eingerichtet, und dann sahen wir auch noch den
Mann, der anscheinend krank im Bett lag und uns nicht beachtete. Der Familie
ging es schlecht, so schlecht, dass wir nicht wußten, ob es nicht besser
gewesen wäre, sich wieder zu verabschieden, statt der Frau Arbeit und Umstände zu machen. Aber das ging wohl
auch nicht. So erzählte ich, woher wir kämen und wohin wir gingen, zeigten
unsere Bilder - mit unguten Empfindungen - und tranken den Tee, den sie uns
einschenkte. Die Kamera befand sich wegen des Regens im Rucksack, aber ich
versprach der Frau, wir kämen auf dem Rückweg wieder vorbei, würden sie und
ihre Familie aufnehmen und ihr dann ein Bild schicken. Dann weiter. Es regnete,
wir konnten nur hoffen, dass die beiden jungen Männer schon am Treffpunkt das
Zelt aufgestellt hatten, mit dem Plan, am See zu zelten, wurde es wohl nichts
mehr, denn zuerst hinauf , zum Sattel über dem See und dann wieder hinunter in
das Becken waren es sicher noch zwei
Stunden, zu lange unter diesen Umständen.
Dieses Mal waren wir
froh darüber, dass die beiden selbständig gedacht hatten und zu der gleichen
Einsicht gekommen waren, daß es nämlich vernünftiger war, vor dem nächsten
Aufstieg zu übernachten, in der Hoffnung, dass sich das Wetter besserte.
Der nächste Morgen. Im
Zelt wacht man immer früher auf als zu Hause im Bett. Im Zelt hört man auch den
Regen sehr gut, man hört fast jeden Regentropfen, der die Zeltbahn trifft. Nun,
um fünf Uhr morgens steht man ohnehin noch nicht auf. Dass um sechs auch Regentropfen, fein wie Sandkörner, auf das
Zelt prasseln, beunruhigt auch noch nicht. Aber um sieben ist es eigentlich
Zeit, um aufzustehen, aber weil es regnet, bleibt man noch im Schlafsack, eine
halbe Stunde noch, das kann man im Laufe eines Tages aufholen. Kurz und gut, um
zehn sind wir endlich aufgestanden. Wir hätten es wissen können: im Zelt hört
es sich an, als regnete es unablässig, aber eigentlich nieselte es nur noch
schwach. Munkhoo hatte erfahren, wir seien von den Leuten jener Jurte
eingeladen, die etwas oberhalb unseres Lagerplatzes stand, dort könnten wir
frühstücken.
Das war uns so recht
wie unseren Begleitern, denen es erspart blieb, den Gaskocher und das ganze
Zeug auszupacken. Von jener Familie war allerdings nur die Frau mit den Kindern
zu Hause, der Mann hatte sich schon auf den Weg nach Arvaikheer gemacht, wo er
an einem Gesangswettbewerb teilnehmen wollte. Bei Wettbewerben hatte er schon
eine Menge Urkunden eingeheimst, die in der Jurte ausgestellt waren.
Allzu lange durften wir
uns nicht aufhalten. Wir mussten doch nicht nur zuerst zum See wandern, sondern
danach wieder weiter, wenn wir auch die üblichen dreißig Kilometer an diesem
Tag sicher nicht schaffen würden.
Ich will mich nicht
lange mit dem anstrengenden Weg auf den Sattel über dem See aufhalten. Immerhin
wurden wir an diesem Tag nicht von Kraftwagen gestört, dazu war der Weg nach
dem Regen zu rutschig. Ein mit an die zehn oder zwölf mongolischen Urlaubern
besetzter Furgon hatte schon ganz unten umkehren müssen. Auf dem Sattel hatte
ein Paar ein Zelt aufgebaut und bot Limonade, Bier und Tee an, aber an diesem
Tag kamen sicher wenige Leute.
Nun lag also der See unter
uns; ein schmaler grüner Streifen teilte im Westen eine Bucht ab. Nach dem
nächtlichen Regen spiegelte sich blauer Himmel im See. Der Weg zog sich die
östlichen Berghänge entlang und führte durch lichte Lärchenwälder.

Ein mongolische Reisegruppe
lagerte am See, nur einen Steinwurf von dort, wo der Weg das Ufer erreichte.
Männer und Frauen stand zum Teil im Wasser, saßen auf Felsblöcken und ließen
die Beine ins Wasser baumeln. Anscheinend fühlten sie sich durch uns irgendwie
gestört, verschiedene Frauen zogen sich eilig etwas an, doch nicht schnell
genug, als dass ich nicht bemerkt hätte, dass eine junge Frau sich mit bloßem,
also nacktem Oberkörper gesonnt hatte. Oben ohne? Und das in der Mongolei? Im
ersten Lonely Planet über die Mongolei, den wir uns 1994 gekauft hatten, hatten
wir gelesen, die Mongolen vermieden Nacktheit.
Sicher geht es vielen
Leuten so, dass sie - wie ich - einmal in dem Fluß oder in dem See richtig
eingetaucht und geschwommen sein müssen, um sich das Erlebnis einzuverleiben.
Schon als ich mich umzog, unter Schonung empfindsamer Gemüter, schauten einige
von drüben herüber und als ich erst so weit über große Steine hinausgekrochen
war und mit einem scharfen Platschen eintauchte und schwamm, da kamen die drei
Männer von dieser Reisegruppe zu unseren Begleitern und meiner Frau und
unterhielten sich. Ich nehme an, sie konnten kaum glauben, was sie da sahen,
dass nämlich ein Mensch schwamm. Das Wasser war denn doch recht kalt, ich
schätze acht Grad, aber ich mußte nun gezwungenermaßen etwas herumschwimmen, um
die Leute nicht zu enttäuschen. Die Männer warteten auf meine Rückkehr und
baten, mit mir zusammen fotografiert zu werden. Ich nutzte die Gelegenheit, um
ein Geschäft auf Gegenseitigkeit vorzuschlagen: ich würde ihnen das Bild
schicken lassen, wenn sie, die ganze Reisegesellschaft, ihrerseits ein Lied
sängen, das ich mit der Videokamera aufnehmen wollte. Da stehen wir also, ach,
was soll's, wir haben doch alle unsere Schwächen: nicht alle Mongolen sind
muskulöse Ringer und ich, - ich werde im Laufe von hunderten Kilometer auch
noch da und dort etwas abarbeiten.
Nun also das Lied.
Unsere neuen Freunde sangen ungezwungen, nicht krampfhaft lustig, sondern
einfach frisch drauf los, und noch eine Strophe und noch eine, bis sie am Ende
die Arme hoben und im Kreis schwangen.

Dann noch einmal hinein
in den See und weiter, wir hatten noch einiges vor uns.
Der See war sehr kalt
gewesen, so kalt, dass es lange dauerte, bis mir der Weg hinauf auf den Sattel den Schweiß aus den Poren trieb.
Wir hatten vereinbart,
dass wir noch einmal bei jener Familie einkehren würden, wo wir gefrühstückt
hatten. Denn wir waren ihnen noch die Bilder schuldig, die wir ihnen allerdings
erst von zu Hause aus schicken konnten.
Dann war es aber wirklich Zeit zu gehen.
Hanne legte die
Koordinaten für den Abend fest, Munkhoo und ich gaben sie in unsere
GPS-Empfänger ein und los.
Der Weg führte zunächst
das Tal hinab, das wir am Vortag heraufgekommen waren, vorbei an der Jurte jener armen Familie. Die Frau schien uns fast
erwartet zu haben. Auf unseren Wanderungen konnten wir natürlich keine
Geschenke mitnehmen und da und dort austeilen;
den Kindern gaben wir manchmal
Trockenobst, genauer gesagt, wir gaben es jeweils der Mutter und sie teilte es
aus. So hielten wir es auch hier, das eigentliche Geschenk sollte das Bild
sein, das wir der Familie schicken wollten. Die Frau hatte es sichtlich schwer
im Leben; in der Jurte lag der kranke Mann, sie selbst und die Kinder waren
ärmlich gekleidet. Bei solchen Begegnungen bedauert man, dass man nicht mehr Zeit hat, um wenigstens
Mitgefühl dadurch zu zeigen, dass man fragt.
Wir näherten uns dem
Treffpunkt, aber der Neunundsechziger war weit und breit nicht zu sehen. Aber
uns fiel etwas auf, auf dem Hang im Westen des Tals. Es bewegte sich, war aber
kein Tier, eher ein Fahrzeug, hielt, jemand stieg aus. Dorthin war es
vielleicht eine halbe Stunde zu gehen, der Pfeil des GPS-Empfängers aber zeigte
das Tal hinunter. Sollten wir nun in Richtung des Fahrzeugs gehen oder dem
Pfeil folgen? Es dämmerte schon. Wenn
wir nun vom Weg abbogen und in Richtung des Fahrzeugs gingen und wenn und
wenn....kurz und gut, wir beschlossen, zum Treffpunkt zu gehen, dort waren wir
immerhin auffindbar und unsere beiden Begleiter waren beweglicher als wir.
Und da kamen sie auch
schon, immerhin nach zwanzig Minuten, hinter uns her, fuhren bis zum Treffpunkt
und tischten uns die Suppe auf, die sie dort oben schon gekocht hatten. Alles
weitere wie üblich und nicht weiter erwähnenswert: der allabendliche stürmische
Wind, der Regen und die nächtliche Stille.
IX
Nun haben wir übrigens den 25. Juni. An diesem Tag wird uns endlich nichts
aufhalten, kein Bad im See, kein Gesang und kein Regen. Zu Fuß geht es zunächst
zum Bach, mit dem Auto hinüber und dann sind wir auf uns allein gestellt. Der
Weg führt den Hang hinauf, an der Stelle vorbei, wo uns Munkhoo und Bold am
Vorabend erwartet hatten. Dort treffen wir einen Reiter auf einem stattlichen
Fuchswallach. Ich erkläre ihm, ich wolle von ihm ein Bild machen und es ihm
später schicken, wenn er uns seine Adresse gebe. Aber viele Gelegenheiten gibt
es für einen mongolischen Viehhalter nicht, zu bewahren, was er in der Schule
gelernt hat. Er kritzelt und krakelt uns etwas ins Notizheft, eine Adresse ist
das nicht; wir werden das Bild zusammen mit anderen jemandem aus dieser Gegend
schicken; der wird den Reiter schon ausfindig machen.
Der Weg führt über den
Rücken hinweg in das nächste Tal und folgt schließlich einem breiten Bach. Wege
vereinigen sich, Wege trennen sich, aber das GPS ist zuverlässig und weist uns
die Richtung und um Mittag sind wir um Ziel. Nun, vielleicht hatten die beiden
eine geschicktere Stelle gefunden als diesen Punkt, deswegen hinauf auf den
nächsten Rücken und noch ein Blick über die Böschung zum Bach hinunter: weit
und breit kein Neunundsechziger.
Etwa ein halbe Stunde
nach Westen standen zwei Jurten, anscheinend jenseits des Baches, der sich dort
in mehrere breite Arme teilte. Und zwischen den Jurten stand etwas, es konnte,
es mußte unser Neunund- sechziger sein.
Die beiden Begleiter hatten das einzig Richtige getan: sie hatten sich bei
einer Familie eingeladen und erwarteten uns dort und uns erwartete ein
Mittagessen und eine Unterhaltung. Aber bald erkannten wir, es war nicht unser
Neunundsechziger, ein blassblauer, sondern ein sandfarbener. Von der anderen Seite
näherten sich zwei Mädchen. Unsere Fragen hinüberzurufen, war müßig, da
zwischen uns der Bach rauschte und sprudelte. Ich mußte durch den Bach waten,
zwischen glitschigen Wackersteinen einen halbwegs verlässlichen Stand suchen
und zwar dort, wohin die Mädchen wiesen. Hanne ging währenddessen zurück,
wenigstens bis zum Treffpunkt, vielleicht mußte sie auch noch weiter
zurückgehen, weil sich der Weg vor der Talbiegung geteilt hatte. Warum nur,
warum konnten die beiden Kerle nicht einfach dem Pfeil des GPS folgen!
Ich folgte den beiden
Mädchen in die Jurte und erklärte ihnen, wir suchten einen Neunundsechziger mit
zwei Männern. Welche Farbe das Auto habe. Ich kann auf Mongolisch
"weiß" sagen, aber das Auto war eben nicht weiß, sondern
schmutzig-blassblau. Ich schaute mich in der Jurte um: da, wie dieser
Plastikbehälter sei es. Ein Mann kam, der Vater eines der beiden Mädchen. Ihm
erklärten sie meine Lage. In drei Kilometer Entfernung stehe so ein Auto. Dann mußte ich nur noch meine
Frau finden. Der Mann wollte mit seinem
Motorrad zum Auto fahren und die beiden herbeiholen.
Zurück zum Treffpunkt.
Niemand, dann noch über den nächsten
Hang, immer noch niemand. Ich schrie. Aber nach der einen Seite hin verwehte
die Stimme in der Weite des Tals, auf der anderen Seiten ging sie im Rauschen
des Bachs unter. Auf einmal erschien ihr Kopf über der Kante des Abhangs und
aus der anderen Richtung brummte der Neunundsechziger heran.
Die beiden hatten
überlegt: die Europäer nehmen dort, wo sich der Weg teilt, wahrscheinlich den
Weg zur Rechten, dann müßten sie eigentlich da und dort in das Tal
herunterkommen und dann könnte man mit ihnen zusammen zum Treffpunkt
fahren. Nein, man kann
nicht andere Menschen berechnen, indem man um drei Ecken herum denkt.
Ich schärfte Munkho ein: er müsse
einfach dem Pfeil folgen und dort auf uns warten, wo der Pfeil angibt: Ziel
erreicht. Wenn wir denken, dass der andere denkt, was wir denken, - dann würden
wir uns ganz bestimmt verlieren. Da, das GPS, das gilt. Punkt.
Dieses Mal war es noch
einmal gut gegangen. Munkhoo hatte dort,
wo sie uns erwartet hatten, schon gekocht. Aber gegessen wurde am wirklichen
und eigentlichen Treffpunkt. Von da aus gingen wir weiter, nur hatten wir
sicher eine Stunde verloren und das völlig unnötig.
Die beiden Mädchen
wollten uns noch etwas Gutes tun und brachten uns eine Plastiktüte voller Aruul
und Hartkäse, worüber sich Munkhoo und Bold freuten, als wir sie bei einer
Jurte trafen.
Hunde hatten uns
angekündigt und waren uns mit wütendem Gebell entgegengejagt. Das Bellen hatte
die Leute aufgestöbert und sie beeilten sich, die Hunde zu packen und auf den
Boden zu drücken, andererseits hatten sie, nämlich die Hunde, sich schon davon
beeindrucken lassen, dass ich Steine aufhob und ausholte, als wolle ich werfen.
Da zogen sie den Schwanz ein und brachten sich in Sicherheit und wurden von den
Leuten dieser Jurte noch dazu festgehalten, so daß wir uns der Jurte nähern und
eintreten konnten.
Wie soll ich eigentlich
den Mann und Familienvater jeweils nennen? Der Nomade? Der Herr? Der
Viehhalter? Das geht doch alles nicht, deswegen werde ich in Zukunft den
mongolischen Begriff "malchin" verwenden, der zwar auch nur
"Viehhalter" bedeutet, aber denn doch anders klingt. Also der Malchin
war schon draußen mit Hilfe zweier sehr einfach zusammengeschraubter
Krücken herumgehumpelt. Mit dem linken
Fuß trat er nicht auf, sondern ließ das Bein angewinkelt hängen und drinnen
setzt er sich so, dass er das linke Bein auf das Bett legen konnte. Natürlich
kam die Rede gleich auf die Verletzung oder Erkrankung. Bei einem
Motorrad-Unfall hatte er sich das Bein gebrochen oder was auch immer, er wußte
es selbst nicht genau. Er hatte sich den linken Unterschenkel schienen lassen,
mit kurzen Hölzern und einigen Tüchern, und nun wartete er darauf, dass das
Bein irgendwie heilte. Aber seit dem Unfall waren schon vier Wochen vergangen,
die Aussichten auf Heilung standen also, so weit ein Laie das beurteilen
konnte, schlecht. Dabei war der Malchin erst an die vierzig Jahre alt. Heilte
das Bein nicht mehr richtig, dann waren das düstere Aussichten. Ein Malchin mit
Krücken? Unmöglich!
Munkhoo hatte in meiner
Adresse das "Dr." bemerkt, aber er wußte nicht, was für ein
"Dr." ich war. Es ging ihm
ähnlich wie dem Wirt einer Garküche in einem bei Paharikera gelegenen Dorf, dem
ich meine Karte gegeben hatte, nachdem er sich als "Jain people"
bezeichnet hatte. Er las "Dr." und holte gleich seine alte Mutter
herunter in die Schenke und ich sollte etwas über ihren Gesundheitszustand
sagen. Ich betastete ihren Hals unterhalb der Ohren und gab ihr dann einige
Paracetamol. Meine Besorgnis wegen des Beins deutete Munkhoo als Hinweis
auf berufliche Kenntnisse meinerseits,
aber ärztliche Kenntnisse brauchte man nicht, um zu verstehen, dass der Malchin
mit seiner Gesundheit spielte. Ich schärfte ihm über Munkhoo ein, es sei sehr,
sogar äußerst wichtig, dass er so schnell wie möglich den Arzt aufsuchte, damit
der mögliche Bruch richtig heilte. Aber ich befürchte, er verließ sich darauf,
dass das Bein von selbst heilte. Es war denn auch sehr umständlich, ein
Fahrzeug aufzutreiben, um das Bein dem Arzt zu zeigen, der am Krankenhaus in
dem hundert Kilometer entfernten Sum-Zentrum arbeitete. Ich hütete mich davor, Hoffnungen zu wecken,
die nicht berechtigt waren, und ließ mir das Bein nicht zeigen. Ich war doch
kein "Heiler" wie jener Kerl, den wir 2009 in einem Dorf in
Gobi-Altai getroffen hatten; der hatte doch tatsächlich einer Frau, die wegen
unbestimmter Beschwerden im Bauch zu ihm gekommen war, empfohlen, nichts mehr
von Ziegen zu sich zu nehmen, kein Fleisch, keine Milch. So werde sie gesund.
Und wie immer rundete Wacholder-Rauch die Behandlung ab.
Wir mußten wieder
aufbrechen. An diesem Tag mußten wir noch so weit wie möglich das Tal
hinaufgehen, um am nächsten Tag über einen Sattel hinweg in das Tal zu
gelangen, durch das der Weg nach Nord-Westen führte und lasse uns nun in völliger Einsamkeit in einem
breiten Tal nächtigen.
X
Diesem Tag widme ich
einen eigenen Abschnitt. Hanne rechnete wie immer die Koordinaten des
Mittagsziels aus, wie sie es schon auf der Wanderung durch den Gobi- und Hohen
Altai getan hatte und zwei Jahre zuvor
auf der Wanderung entlang des Tuul und des Kherlen. Wir konnten uns aber auch
den Weg gut vorstellen, wir sahen weit voraus und das Tal lief offenkundig auf
einen Sattel zu. Bald nach dem Aufbruch
müssen wir noch kurz bei einer Familie eingekehrt sein, wenigstens beweisen das
die Bilder, aber nach dieser Begegnung waren wir völlig allein. Zwar zweigte
nach einer Stunde ein Weg nach Westen ab, aber wir waren sicher, wir müssten
unserem Weg bis zum Talschluß folgen, um dort den Sattel zu übersteigen. Wir
ließen uns auch nicht davon beirren, dass der Zeiger des GPS bald bedenklich
nach links, als nach Westen zeigte. Der Zielpunkt lag eben dort, aber wir
müßten in einem Bogen den Sattel überqueren und jenseits dieser Bergkette nach
Süden gehen. Allmählich beschlichen uns Zweifel. Der Weg, den man sah, führte
immer weiter weg vom Mittagspunkt. Aber diesen Weg sah man immerhin und wir
wußten aus Erfahrung: mit Abkürzungen täuscht man sich. Trotzdem wollte Hanne
es 'mal versuchen, geradeaus den Hang hochzugehen, um droben wieder auf den Weg
zu stoßen, dem ich folgte. Wir wollten unbedingt in Sichtweite von einander
bleiben....wir sahen uns auch immer
noch... und dann auch noch und auf einmal hatten wir uns aus den Augen
verloren, obwohl wir weit über alle Berghänge und das Tal hinunter sahen, das
wir heraufgekommen waren. - Ich war auf der Kuppe des Berges angekommen und
wartete, da Hanne doch eigentlich auf den Weg stoßen mußte, der sich die ganze Kuppe entlang zog, soweit ich sehen
konnte. Ich rief, ging hundert Meter, rief wieder, eilte über den kleinen, kaum
bemerkbaren Buckel hinweg, der mir den Blick verstellte, und rief wieder. Keine
Antwort. Weit und breit kein Mensch, ich zog meine Jacke aus und schwenkte sie,
um durch die Bewegung auf mich aufmerksam zu machen, - und sah und hörte nicht, dass Hanne über
einen Felskamm heruntergestiegen kam, der nur fünfhundert Meter vor mir sich jenseits einer Mulde erhob, - bis mir
endlich auch eine Bewegung auffiel, eine Bewegung wenigstens, denn auch Hanne
hatte immer wieder gerufen, - aber ich weiß: mein Gehör.
Endlich waren wir
wieder zusammen.
Hier geht's zum Reisebericht aus dem Jahr 2009: "Nach Norden" |